Mittwoch, 25. Oktober 2017

"Das Buch der verlorenen Dinge" von John Connolly

Bevor sie krank wurde, hatte Davids Mutter ihm oft gesagt, dass Geschichten lebendig waren. Nicht auf dieselbe Art wie Menschen oder Hund oder Katzen. Menschen waren lebendig, ob man sie zur Kenntnis nahm oder nicht, während Hunde gewöhnlich dafür sorgten, dass man sie zur Kenntnis nahm, wenn sie das Gefühl hatten, dass man sie zu wenig beachtet. Katzen wiederum waren bisweilen sehr geschickt darin, so zu tun, als würde man überhaupt nicht existieren, aber das war wieder eine ganz andere Sache.
Geschichten waren anders: Sie wurden lebendig durch das Erzählen. Ohne eine menschliche Stimme, die sie vorlas, oder ein Paar gebannt aufgerissene Augen, die sie beim Licht einer Taschenlampe unter der Bettdecke verfolgten, existierten sie im Grunde nicht in unserer Welt. Sie waren wie Samenkörner im Schnabel eines Vogels, die darauf warteten, auf die Erde zu fallen, oder wie Noten auf einem Blatt Papier, die sich danach sehnten, dass ein Instrument sie zum Klingen brachte. Sie schlummerten vor sich hin und hofften auf eine Gelegenheit, ihren Buchdeckeln zu entrinnen. Sobald jemand anfing, sie zu lesen, konnten sie sich verändern. Sie konnten sich in der Fantasie verwurzeln und den Leser verwandeln. Geschichten wollten gelesen werden, hatte seine Mutter ihm zugeflüstert. Sie brauchten es. Deshalb drängten sie sich aus ihrer Welt in unsere. Sie wollten, dass wir ihnen Leben gaben.



London zu Zeiten des zweiten Weltkrieges. Die Mutter des zwölfjährigen Davids ist sehr krank und stirbt. Nach einiger Zeit geht Davids Vater eine neue Beziehung mit Rose ein, die seine kranke Mutter damals pflegte. David gefällt es gar nicht, dass sein Vater anscheinend seine Mutter ersetzt hat und sich Rose zwischen ihn und seinen Vater stellt. Rose jedoch ist sehr bemüht, zu David eine gute Beziehung aufzubauen, doch er lässt dies nicht zu. Um den Bombenangriffen der Deutschen zu entkommen, ziehen David und sein Vater zu Rose aufs Land. Sein Zimmer ist bereits gefüllt mit alten Büchern seines Vorbesitzers. Manchmal scheint es, als flüsterten sie dem Jungen etwas zu. Also flüchtet er sich in die Welt der Bücher, um seiner verhassten Stiefmutter und seinem neuen Brüderchen aus dem Weg zu gehen. Eines Tages beginnt David, neben den Stimmen der Bücher auch noch eine Gestalt herumhuschen zu sehen, die außer ihm niemand wahrzunehmen scheint. Eines Nachts, nach einem großen Streit mit seinem Vater und Rose, flüchtet David durch einen Spalt im Garten in eine andere Welt. Dort angekommen, ist ihm der Rückweg jedoch verwehrt und David muss sich den seltsamen, aber grässlichen Gefahren dieser anderen Welt stellen. Es herrscht eine trübe, düstere und kalte Atmosphäre. Um wieder nach Hause zu gelangen, macht sich der kleine Junge auf den Weg zum König, der ihm angeblich helfen kann. Ein blutiger, brutaler und schrecklicher Weg liegt vor ihm. 

Meine Meinung zu dem Buch:
Durch den Titel, das Cover und den Text auf der Rückseite des Buches rechnete ich mit einem etwas sachteren Buch über eine seichte Fantasiewelt. Darin habe ich mich getäuscht. Schon die ersten Seiten trieben mir Tränen in die Augen und im Laufe der Geschichte wurde es immer brutaler und grausamer. Damit habe ich absolut nicht gerechnet. Ich empfand das nicht als negativ, im Gegenteil. Es war sehr spannend und aufregend! Die Geschichte wurde niemals langweilig.
Es fällt einem sehr leicht, sich in den kleinen David hineinzuversetzen, der seine geliebte Mutter verloren hat und nun eine neue Frau und ein Geschwisterchen von ihr in seinem Leben akzeptieren soll. Man spürt seine Wut, Neid, Verzweiflung und Einsamkeit. Das klingt alles nach einem ganz und gar traurigem Buch, aber es ist einfach nur interessant und spannend, die Geschichte mitzuverfolgen. Ich fand es stellenweise sogar gruselig mit Gänsehautfaktor, genau im richtigem Maß.  Als Leser kann man richtig gut mitverfolgen, wie sich Davids Gefühle immer weiter entwickeln und vertiefen, wie er immer mehr an den neuen Lebensumständen leidet. Als er dann in die andere Welt gerät, denkt man automatisch an Märchen wie Rotkäppchen, Schneewittchen usw. Sie wandeln sich jedoch in beängstigende Geschichten um, Märchen wie wir sie kannten, werden vom Autor gänzlich umgewandelt. So begegnet David zum Beispiel der tyrannischen, fetten, brutalen Schneewittchen, die die sieben Zwerge quält und misshandelt. "Sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage" existiert in dieser Welt nicht, was ich ziemlich interessant finde. Mir gefällt es, wie der Autor sämtliche Märchen in ein völlig neues Licht stellt und dem Ganzen ein neues Gesicht verleiht. Mir kam dabei auch der Gedanke auf, dass wenn die reale Welt schon so grausam und brutal ist mit ihren Kriegen, warum sollte es dann in Märchen anders sein? Ich denke, dass der Autor dadurch zeigen will, dass eine Flucht aus der Realität das Leid nicht mindern kann. Das muss David nun am eigenen Leib erfahren. Wie ich schon erwähnt habe, ist der Roman von Anfang bis Ende spannend geschrieben und ich konnte es kaum aus der Hand legen. Das Ende war absolut unvorhersehbar, was mir bei Büchern sehr wichtig ist. Der gesamte Weg, den David zu gehen hat, ist aufregend, emotional und spannend geschrieben. Man stellt sich immer die Frage: welchen Wesen begegnet er als nächstes? Wer ist der krumme Mann? Schafft der kleine Junge es, bis zum König zu gelangen und kann dieser ihm tatsächlich nach Hause helfen? "Das Buch der verlorenen Dinge" werde ich auf jeden Fall mal wieder lesen und reihe es unter meinen Favoriten ein!

Dienstag, 24. Oktober 2017

"Wolkenschloss" von Kerstin Gier

Ein leises Klopfen an der Fensterscheibe riss mich aus meinen Gedanken. Zwei schwarze Knopfaugen schauten mich von draußen an, und ich beeilte mich, das Fenster zu öffnen. Das war ein weiterer Grund, meine Kammer zu lieben: Die Fensterbank wurde mit Vorliebe von den Bergdohlen angeflogen, vermutlich weil, wer immer hier vor mir mal gewohnt hatte, sie verbotenerweise gefüttert hatte. Eine Angewohnheit, die ich sofort mit Begeisterung aufgenommen hatte, Verbot hin, Verbot her. Es handelte sich ja nicht um Tauben auf dem Markusplatz, die Venedig angeblich noch zum Einsturz bringen würden, weil ihre Kacke selbst Marmor wegätzte- , es waren nur sieben Vögel, und sie richteten keinerlei Schaden an. Um ehrlich zu sein, hatte ich sie überhaupt noch nie kacken sehen, es waren außerordentlich manierliche Vögel, die wahrscheinlich extra in den Wald flogen, um ihr Geschäft zu erledigen. Ich hatte sie alle Hugo getauft, weil sie anfangs für mich mit ihren gelben Schnäbeln, dem glänzenden, tiefschwarzen Gefieder und den klugen, schwarzen Augen absolut gleich ausgesehen hatten. Mittlerweile hatte ich aber gelernt, sie zu unterscheiden, und so gab es nun den melancholischen Hugo, den wirklich unglaublich verfressenen Hugo (verfressen waren sie alle, doch der wirklich unglaublich verfressene Hugo war einfach... wirklich unglaublich verfressen), den einbeinigen Hugo, den kleptomanischen Hugo (er hatte mir schon zwei Haarklämmerchen, den Deckel einer Sprudelflasche und beinah das Ladekabel für mein Handy geklaut, aber er war trotzdem mein heimlicher Liebling), den pummeligen Hugo, den hopsenden Hugo und den misstrauischen Hugo. "Hallo hoppsender Hugo, kommst du die fabelhafte Fanny besuchen?"


Die siebzehnjährige Fanny macht anstelle des Abiturs ein Praktikum in einem alten Grand Hotel in den Schweizer Bergen. Sie ist dort das Mädchen für alles und gibt sich stets Mühe, gerät aber immer wieder in Schwierigkeiten, die sie trotzdem bewältigt bekommt. Hierbei erhält sie zum Glück oftmals Hilfe einiger Freunde aus dem Personal. Der Concierge, Monsieur Rocher, versorgt Fanny stets mit allen Informationen, die er über die Gäste hat und Pavel, der in der Wäscherei arbeitet, hat immer ein offenes Ohr für Fanny. An unangenehmen Zeitgenossen fehlt es im Wolkenschloss natürlich auch nicht. Der rücksichtslose Hotelbesitzer Roman Montfort, der stets am Personal zu meckern hat, das Fräulein Müller, die anscheinend in der Zeit von Heidi und Fräulein Rottenmaier steckengeblieben ist und die drei zickigen Aushilfen Hortensia, Camilla und Ava tyrannisieren Fanny wann immer sie können. Ganz anders als Roman Montfort ist sein Sohn Ben, der über die Weihnachtsferien im Hotel seines Vaters arbeitet. Ein sehr liebenswürdiger und hilfsbereiter Mensch. Auch lernt Fanny den attraktiven Tristan, einen Hotelgast, kennen, der sich als Hoteldieb vorstellt und nachts an der Fassade des Hotels herumklettert. Als es auf die Weihnachtsfeiertage und Silvester zugeht, überschlagen sich die Ereignisse. Fanny findet heraus, dass eine russische Oligarchenfamilie inkognito im Hotel gastiert, welche angeblich den legendären Nadjeschda-Diamanten besitzen sollen. Dann verschwindet Schmuck eines Gastes, Kinder werden plötzlich vermisst, ein mysteriöser Mann checkt ein, der unter seinem Mantel eine Pistole versteckt hat und Fanny begiebt sich ahnungslos in Lebensgefahr. Eines steht fest: dieser Job wird niemals langweilig.


Meine Meinung zu dem Buch:
Was ich bisher nie angesprochen habe in meinen Rezensionen: Das Cover. Hier muss ich einfach sagen, wie wunderschön ich das Cover finde! Es gibt einiges darauf zu entdecken, ist in wunderschönem Pastell-lila gehalten und man erhält gleich einen ungefähren Eindruck, wie man sich das Hotel vorzustellen hat. Nun zur Geschichte: der Roman wird aus der Ich-Perspektive von Fanny Funke erzählt. Mit viel Humor erlebt man als Leser den Alltag im Hotel aus ihrer Sichtweise und ihren Gedanken. Es gibt viele Augenblicke, in denen man einfach schmunzeln muss, wenn Fanny zum Beispiel über einen Hotelgast denkt, wie eingeblidet dieser doch sei oder ähnliches. Man leidet wunderbar mit ihr mit, wenn sie von einem Gastkind ständig in Schwierigkeiten gebracht wird, wenn sie jemand tadelt oder die drei Zicken es ihr mal wieder schwer machen, indem sie Fanny zum Beispiel aus dem gemeinsamen Waschraum jagen. Aber es ist nicht alles schrecklich. Es gibt immer wieder Momente, in denen man sich für sie freut oder mitfiebert, wenn sie an einer Problemlösung dran ist. Durch den Schreibstil werden auch die einzelnen Personen, die Gäste und das Personal, wunderbar beschrieben. Es fällt also sehr leicht, sich diese Menschen deutlich vorstellen zu können. Sowohl was das äußere Erscheinen als auch den Charakter betrifft. Natürlich hat sich in diesem Jungend-Roman auch eine Liebesgeschichte eingeschlichen. Doch das wird sehr subtil eingeführt und ist recht spannend und abwechslungsreich eingebracht worden. Denn es scheint, als würden sowohl der Sohn des Hotelbesitzers, Ben, als auch der Gast Tristan sich sehr für Fanny interessieren. Sie selbst ist sich nicht sicher, was oder wen sie will. Mit den beiden Jungen erlebt sie sowohl schöne Momente als auch Konflikte. Es ist meiner Meinung nach der richtige Grad an Liebe in der Geschichte. Insgesamt ist "Wolkenschloss" ein Jugendroman mit einer Mischung aus Liebe, Krimi und Humor! Zu dem Krimi-Aspekt: innerhalb der Geschichte fallen immer an den richtigen Stelle n gewisse Spannungsmomente, die die Handlungen wieder ankurbeln und es noch interessanter machen. Man ist  ständig am mitfiebern, versucht selbst, dahinter zu kommen. Der absolute Höhepunkt der Geschichte kommt erst am Ende, was aber absolut nicht schlecht ist. Es wird auf keinen Fall jemals langweilig und am Ende erwartet einen das große Finale der Geschichte. Der größte Kriminafall im Hotel, der Fanny sogar in Lebensgefahr bringt. Absolut spannend mit unerwarteter Wendung und Enthüllung! Ich bin kein Krimi-Fan. Aber in dem Buch "Wolkenschloss" fand ich diesen Teil absolut super und das gesamte Buch lesenswert! Ich würde es auf jeden Fall weiterempfehlen.