Samstag, 3. Februar 2018

"Der Wortschatz" von Elias Vorpahl

"Ich war noch nie so tief unten", sagte das Stundenglas. "Das ist der Bereich der toten Sprache."
"Tote Sprache?", fragte das Wort.
"Die Archaismen leben hier. Methusalemworte." Die Strömung ließ nach. Endlich spürte das Wort festen Grund unter sich. Es war stockfinster. "Was sind Methusalemworte?", fragte sie und hielt immer noch die Hand des Stundenglases fest umschlossen. "Die ältesten Worte, die es in unserer Welt gibt. Tausende von Jahren alt."
"Wir sollten uns hier nicht aufhalten. Ich habe ein ganz schlechtes Gefühl", sagte das Wort. In diesem Moment erschien ein Lichtkegel in der Dunkelheit, und noch einer, und noch ein dritter. Zuerst blendete es dem Wort in den Augen, dann nahm die Welt um sie herum Konturen an. Sie sah riesige Schildkröten, die, soweit das Licht reichte, in der Tiefe schwebten. Sie trieben auf der Stelle, und bewegten sich kaum. Auch die Köpfe und Gliedmaßen, die hier und da aus dem dunklen Panzer herausragten, blieben unbewegt. Das Licht kam von Anglerfischen, die sich auf den Panzern der Schildkröten niedergelassen hatten. Einer der Fische befand sich nur ein kleines Stück vom Wort entfernt, denn auch Stundenglas und sie waren auf dem Rücken einer Schildkröte gelandet. Der Panzer unter ihnen bebte. Aus dem Inneren grollte eine Stimme:
"Ehnels Funzeln aus unvordenklichen Jahren. Heutigentags leuchten sie noch immer allerwegen. Die uralte Weil hätte das nicht gedacht."
"Was sagt sie?", fragte das Wort, das nur einen Bruchteil der Wörtchen verstand, die aus dem Panzer aufstiegen.


Das kleine Wort wird eines Tages plötzlich aus seiner gewohnten Umgebung herausgerissen und landet an einem ihm unbekannten Ort. Jedoch hat das Wort nun nicht nur sein Zuhause und seine Familie verloren, sondern auch seinen Namen und seinen Sinn. Mitten in dieser seltsamen, neuen Welt begibt es sich auf die Suche nach seiner Identität. Dabei lernt es viele neue Worte kennen, lernt, dass manche Worte erst dann vollständig sind, wenn sie ihren Partner gefunden haben. So begegnet das Wort zum Beispiel der Dichterin und dem Denker und lernt von Verrückt und Esel, dass zunächst jedes Wort seinen Artikel finden und sich damit verbinden muss. Doch zur gleichen Zeit wird das kleine Wort von zwei bedrohlichen Gestalten verfolgt. Was es mit ihnen wohl auf sich hat? Gejagt und suchend wandert das kleine Wort umher. Auf seinem langen Weg zu sich selbst erlebt es sowohl grauenvolle Dinge als auch wunderschöne. So erfährt es zum Beispiel, wie es sich anfühlt, von einem Menschen ausgesprochen zu werden oder gesungen zu werden. Es erlebt, welche Wirkungen Geschichten auf den Zuhörer haben können, wie man eine Geschichte erzählt und vieles mehr. Am Ende seiner Reise steht das Wort einem Mann gegenüber, der mehr ist, als er auf den ersten Blick zu sein scheint. Kann er dem Wort helfen, seinen Namen zurückzuerlangen?


Meine Meinung zum Buch:
Zunächst möchte ich gestehen, dass die erste Hälfte des Buches eher ein Durchquälen war, als ein entspanntes Lesen. Ich war verwirrt, was es mit der Hauptfigur, dem "Wort" auf sich hat. Ich konnte mir auch Anfangs überhaupt kein Bild von einzelnen Figuren machen. Sollte ich sie mir als Menschen vorstellen? Dann wiederum gab es das Wort "Esel", welches tatsächlich wie ein Esel aussah. Aber dann existiert eine Schildkröte, die aber nicht das Wort Schildkröte darstellt, sondern "Weil" heißt. Ich hoffe, meine Gedankengänge sind verständlich. Die zweite Hälfte gefiel mir dann langsam immer besser. Es fiel mir mittlerweile leichter, mir ein Bild von der Welt und den Figuren zu machen. Auch habe ich langsam begriffen, worum es in der Geschichte tatsächlich geht. Auf eine verblüffende Art bringt einen diese Geschichte dazu, über Worte nachzudenken, wie man es vorher noch nicht getan hat. Während des Lesens wird einem langsam klar, welche Bedeutung Worte wirklich haben. Dass man sie nicht ohne Sinn und Verstand verwenden soll. Langsam entdeckte ich auch, dass der Roman die Suche nach seinem Selbst behandelte, Selbstvertrauen zu entwickeln, Mut zu haben und über sich selbst hinauszuwachsen. Es steckt doch viel mehr in dieser besonderen Geschichte, als man beim ersten Lesen vermuten möchte. Ich musste, als ich das Buch beendet hatte, erst einmal ein paar Tage darüber nachdenken bis mir das alles bewusst wurde.
Nebenbei ist dieser Roman enorm fantasievoll! Zum Schluss musste ich sogar schmunzeln, als die Geschichte eine absolut unerwartete Wendung nahm. Ich war positiv überrascht über das Ende. Humorvoll und immer noch tiefgründig. In "Der Wortschatz" erwähnt der Autor nicht nur die Bedeutung der Worte. Er zeigt dem Leser zudem wunderbare Wortspiele auf, denkt um die Ecke und gibt Worten eine neue Bedeutung. Fazit: nach diesem Buch hat man eine ganz andere Sicht auf die Sprache. Es ist ganz sicher kein Buch für jeden, es erscheint mir doch etwas extravagant. Aber ich bereue es nicht, es gelesen zu haben und werde es sicher einmal wieder lesen.

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