Freitag, 10. November 2017

"Ensel und Krete - Ein Märchen aus Zamonien" von Walter Moers

Krete wusste nicht, was sie tun sollte. Ensel stand bis zu den Knöcheln im öligen Wasser, mit geschlossenen Augen, und schrie wie am Spieß. Es war ein langgezogener, unaufhörlicher Schrei in wilder Panik, wie von jemandem, der aus großer Höhe in die Tiefe stürzt. Dieser Eindruck wurde noch dadurch verstärkt, daß Ensel wild mit den Armen ruderte. Aber Krete konnte nichts erkennen, was ihm Schmerzen verursachte oder dieses absurde Verhalten rechtfertigte. War das vielleicht einer seiner idiotischen Scherze? "Ensel, laß das! Komm raus da!" Ensel schrie weiter, anhaltend und beängstigend. "Jetzt komm endlich raus, das ist nicht lustig. Vielleicht ist das ein Sumpf. Ensel!" Krete überlegte, hinterherzuwaten und ihn herauszuziehen. Es war nur ein kurzer Schritt ins schlammige Wasser, aber Krete zögerte. "Ich kann dich zu deinem Zögern nur aufrichtig beglückwünschen", sagte da eine wohlbekannte Stimme hinter ihr. "Ich würde diesen mysteriösen Schlamm auch nicht betreten."


Die idyllische Gemeinde namens Bauming gilt, seitdem die Buntbären den großen Wald bevölkert haben, als eine der anziehendsten Touristenattraktion Zamoniens. Sie schufen ein wahres Ferienpardies für Naturfreunde und sorgen stets für die Sicherheit der Urlauber. Doch wehe dem, der die markierten Wege verlässt und einfach den Wald betritt. Solange die Wege nicht verlassen werden, ist man in Sicherheit. Aber wie Kinder so sind, wagen es die beiden Geschwister Ensel und Krete, zwei Zwerge aus Fernhachen, und verlassen den Weg. Sie wollen etwas neues sehen in der ihnen so bekannten Umgebung. Also wagen sie sich ins Unterholz des Waldes und gehen tiefer und tiefer hinein. Schnell wird den Zwergenkindern ihre Neugierde zum Verhängnis. Der Wald offenbart sein wahres Ich voller Gefahren, Monster, Monsterpflanzen, gefährlicher Sümpfe und am schlimmsten: einer bösen Hexe. Werden die beiden Kinder jemals wieder aus dem Wald heraus und zurück zu ihren Eltern finden, oder werden sie von den Wesen des Waldes gefressen?

Meine Meinung zu dem Buch:
Ich bin eine begeisterte Leserin der Bücher von Walter Moers. Darum war ich umso gespannter, wie er dieses "Zamonische Märchen" (dass für jeden eindeutig an das Märchen "Hänsel und Gretel" anlehnt) auf seine Art erzählen würde. Und wie immer war ich keineswegs enttäuscht. Zu Beginn gab es kleine Abschweifungen, aber die hatte man schnell hinter sich gelassen und der wirklich interessante Teil beginnt! Wieder einmal verblüfft der Autor mit seiner unglaublischen Fantasie. All diese Wesen, die Zwergenkinder aus Fernhachen, ein gemeingefährlicher Laubwolf, unsterbliche Sternenstauner, ehrgeizige Erdgnömchen, ein unberechenbarer Stollentroll und viele mehr erwarten den Leser in diese Buch. Zugegeben, es ist nicht leicht, sich diese Wesen bildlich vorzustellen, aber gerade das finde ich so faszinierend an den Geschichten von Moers. Es ist nichts, was man schon irgendwie auf irgendeine Weise gesehen haben könnte. Das Unmögliche. Absolut abstrakt und verblüffend. Auch die Charakterzüge der einzelnen Wesen sind fantastisch beschrieben worden, so dass man sich wunderbar deren Stimmen und alles drum und dran vorstellen kann, soweit es möglich ist. Auch typisch für die Geschichten von Moers ist, dass man sich ein Ende nicht denken kann. Absolut nicht. Gut, hier gibt es nur zwei Möglichkeiten: entweder Ensel und Krete finden aus dem Wald oder eben nicht (vielleicht bleiben sie für immer dort, vielleicht sterben sie auch- bei Moers ist alles möglich!). Dieses Märchen ist eine Fantasiereise der anderen Art. Allgemein ist die Geschichte spannend und aufregend geschrieben. Man begeleitet die Zwergenkinder auf ihrem langen, beschwerlichen Weg durch den Wald und wartet gespannt, was sie als nächstes finden werden-  oder wer die Kinder als nächstes findet. Hier und da scheint es Hoffnung für die Kinder zu geben. Aber dazu möchte ich nichts genaueres sagen.
"Ensel und Krete" ist keine Neuverfassung des Märchens "Hänsel und Gretel", sondern zeigt lediglich, was in der Literatur alles möglich ist. Und ich bin beeindruckt. Meiner Ansicht nach kann diese Geschichte den anderen Büchern von Moers zwar nicht ganz das Wasser reichen, aber ich hatte großen Spaß daran, es zu lesen und fand es einfach faszinierend!

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